Swiss Hard Rock and Heavy Metal Magazine since 1999
You can reach us via email or phone.
+41 (0) 79 638-1021
"...Alles, was wir getan haben, war genau das, was wir tun wollten!..."
Tokyo Blade gehörten in den frühen Achtzigern zu den grossen, aufstrebenden Bands, die sich im Fahrwasser von Iron Maiden mit den Alben «Tokyo Blade» (1983) und «Night Of The Blade» (1984) locker einen Platz an der Sonne sicherten. Dass Gitarrist Andy Boulton ins Straucheln geriet, lag nicht nur am eher melodischer produzierten «Blackhearts & Jaded Spades» (1985), sondern auch daran, dass die Truppe – wie so viele andere auch – vom Musikbusiness in eine melodischere Richtung gedrängt wurde. Davon erholte sich die Band lange nicht. Sie löste sich 1991 auf, kehrte nach einem kurzen Comeback (1995–1998) jedoch 2007 erneut zurück.
Allerdings hatte sich die Musikszene bis 2007 bereits massiv verändert, und ein Anknüpfen an die grossartigen Tage war nicht mehr möglich. Trotzdem veröffentlichten Andy, Sänger Alan Marsh, Bassist Andy Wrighton, Gitarrist John Wiggins und Drummer Steve Pierce (die fast immer in dieser Besetzung zusammen spielten) ein Album nach dem anderen und wurden dabei kontinuierlich besser. Mit ihrem neuesten Werk «Time Is The Fire» klingen Tokyo Blade nun so, wie sie klingen müssen, heisst sie gehen ihren eigenen Weg und lassen sich von den aktuellen Missständen im Musikbusiness weder abbringen noch unterkriegen. Andy Boulton sass gut gelaunt in seinem Heimstudio und beantwortete meine Fragen sehr ehrlich, denn die Zeit ist das Feuer!
MF: Was ist bei euch in den letzten drei Jahren, also seit dem letzten Studio-Album «Fury», alles passiert?
Andy: Oh…, lass mich überlegen (grinst). Nach «Fury» haben wir tatsächlich schnell wieder angefangen, neues Material zu komponieren und aufzunehmen. Wir warteten nur darauf, dass alles veröffentlicht werden konnte und hatten definitiv genügend Material für ein zweites Werk (grinst). Momentan sogar für zwei weitere (lacht). Das passiert, wenn dich keine Freundinnen oder Ehefrauen beim Schreiben ablenken (lautes Lachen).
MF: Ah, also habt ihr genügend Zeit?
Andy (lachend): Wir haben reichlich Zeit und absolut keinen Ärger, wenn ich mich in meinem Studio verkriechen will (lacht noch immer). Gott sei Dank! Seit ich mein eigenes Studio habe, geniessen wir den Luxus, dass ich mich jederzeit hinsetzen und an meinen Ideen weiterarbeiten kann. Alles was wir schreiben und aufnehmen und nicht unserem Qualitäts-Anspruch genügt, wird auf die Seite gelegt oder gleich in die Tonne geworfen. Was grossartig klingt, kommt aufs nächste Album. So kommen wir voran (lacht). Wir haben sogar die Möglichkeit, bald eine weitere Scheibe mit unveröffentlichtem Material herauszubringen, sowie ein Live-Album von einem sehr alten Konzert aus dem Jahr 1984. Die Qualität ist zwar nicht grossartig (lacht), aber es wäre schade, wenn wir dieses Dokument den Fans nicht zugänglich machen würden.
MF: Was hat sich bei «Time Is The Fire» im Vergleich zu den anderen Veröffentlichungen verändert?
Andy: Ich habe schon einige Interviews geführt, und es ist interessant, dass manche Leute denken, «Time Is The Fire» sei bedeutend aggressiver als unser Debüt. Der Journalist vom Metal Hammer meinte hingegen, es klinge bedeutend weniger aggressiv (lacht). Ich kann es dir nicht sagen. Wenn wir neues Material schreiben, haben wir keine konkrete Vorstellung davon, in welche Richtung die Lieder gehen sollen. Wir versuchen nicht bewusst, in die eine oder andere Richtung zu komponieren, sondern schreiben einfach das, wonach uns ist. Wenn wir das Gefühl haben, dass eine Idee gut genug ist, wird sie für die Platte verwendet. Wir sagen nie: "Lass uns in die Richtung des letzten oder des zweiten Albums schreiben." Ein «Night Of The Blade» gibt es ja schon (lacht). Was herauskommt, kommt eben heraus. Man könnte es auch eine Art Hassliebe nennen (lacht). Alles, was wir getan haben, war genau das, was wir tun wollten.
"...Die Leute akzeptieren, dass man einen Aufnahme-Prozess nicht stören oder beeinträchtigen sollte..."
MF: Kann man trotzdem sagen, dass ihr heute mit weniger Druck und mehr Spass komponiert als früher?
Andy: Martin, absolut! Damals unterlagen wir einem strengen Zeitplan, der nichts anderes zuliess. Ein kurzes Durchatmen war nicht drin. Das ist einer der positiven Aspekte der heutigen Musikwelt: Die Leute akzeptieren, dass man einen Aufnahmeprozess nicht stören oder beeinträchtigen sollte. Damals, in den Achtzigern, waren Studioaufenthalte unglaublich teuer. Deshalb wollten die Plattenfirmen, dass man nicht zu lange im Studio verweilte. Unser Debüt-Album haben wir zum Beispiel in vier Tagen aufgenommen. Wir haben die Lieder quasi in einer Live-Situation eingespielt. Während dieser Tage schliefen wir auf dem Boden des Studios, damit wir am nächsten Morgen direkt weitermachen konnten (lacht). Bei «Night Of The Blade» gestattete man uns schon zwei Wochen (grinst). Heute haben wir kein Zeitlimit. Dadurch haben wir mehr Gelegenheit, uns intensiver mit den neuen Songs zu befassen und ihnen das zu geben, was ihnen in unseren Augen noch fehlt. Wir versuchen immer, das Beste herauszuholen. Das Einzige, was uns limitiert, ist meine verbleibende Zeit.
MF: Was willst du uns mit dem Album-Titel «Time Is The Fire» sagen?
Andy: Das Interessante ist: Wir haben uns immer mehr oder weniger zufällig für einen Album-Titel entschieden (lachend). Beim ersten Album ging es um den Bandnamen Tokyo Blade. «Night Of The Blade» war ein Song des zweiten Werks, genauso wie bei «Burning Down Paradise», «Black Hearts & Jaded Spades» oder «Thousand Men Strong». Bei «Fury» sind wir von diesem Schema abgewichen. Dieses Mal haben wir den Albumtitel vom Song «We Burn» abgeleitet. Zeit ist der (lachend) entscheidende Faktor für alles. Wir alle haben nur eine begrenzte Zeit zum Leben. Es gab einige Musiker, die die Musikwelt revolutioniert haben, sei es in den Siebzigern, den Achtzigern oder in einem Jahrhundert davor. Der Song handelt davon, dass wir in dieser Zeitschlaufe "brennen". Wir werden alle älter, genauso wie auch eine Band ihren Lebenszyklus hat.
MF: Wenn du vom Älterwerden sprichst, geniesst du die Zeit aktuell mehr?
Andy: Ja, ich denke, dass ich die Zeit mehr schätze. Das Verrückte und Seltsame ist, dass man mit dem Älterwerden bemerkt, wie verdammt schnell die Zeit vergeht (lacht). Früher hatte man das Gefühl, Zeit im Überfluss zu haben, doch sie vergeht wie im Flug, und das war in jungen Jahren noch anders (lacht). Die Zeit scheint sich mit dem Alter zu beschleunigen. Wenn ich an Weihnachten 2023 zurückdenke und ein Jahr später wieder am Christbaum stehe, frage ich mich: "Himmel nochmal, wo ist die Zeit geblieben? Wir haben doch erst kürzlich Geschenke ausgetauscht!" (lachend). Und es wird von Jahr zu Jahr schlimmer. Momentan kann ich aber noch immer neue Musik kreieren, die ich liebe, und bin nach wie vor Teil dieser Hard Rock und Heavy Metal Szene. Darum werde ich das auch so lange machen, wie es mir möglich ist. Wenn die Leute mögen, was wir veröffentlichen, dann ist das wunderbar.
MF: Wie hat sich das Bandgefühl von den Achtzigern bis heute verändert?
Andy: In gewisser Weise ist es ein bisschen schwieriger geworden. Alan und ich leben in derselben Gegend, aber die anderen Band-Mitglieder wohnen recht weit entfernt. Für einige von ihnen hat die Musik nicht mehr denselben Stellenwert wie früher. Sie haben Ehefrauen und Kinder, und der Fokus hat sich entsprechend verschoben (lacht). Ich hatte nie das Glück, eine glückliche Partnerschaft mit einer Frau zu führen (lacht). Das hat dazu geführt, dass ich Single geblieben bin. Dadurch habe ich mehr Zeit für die Musik (lacht). Dafür habe ich aber auch keinen "Drachen" hinter mir, der mich zwingt, shoppen zu gehen, während ich lieber in einem Café sitzen würde (lacht).
"...In der heutigen Zeit sind Egos eine Epidemie..."
MF: Wie sieht es denn heute mit den Egos im Vergleich zu früher aus?
Andy: Wir hatten nie Egos. Ich sah mich nie als so wichtig an, dass das was ich tat wichtiger gewesen wäre als anderes. Ja, ich bin sehr stolz darauf, was wir mit der Band erreicht haben. Aber ich denke, in der heutigen Zeit sind Egos eine Epidemie. Jeder macht seine Videos, um sein beschissenes Ego zur Schau zu stellen. Bist du nun Musiker oder einer dieser verdammten Influencer. Das sind keine Götter! Ich habe mehr Respekt vor Leuten…, und es spielt dabei keine Rolle, was sie tun. Aber es gibt Leute, die Dinge tun, die ich nie machen könnte. Ich spiele bloss Gitarre.
Klar, jeder in der Band hat sein eigenes Ego, aber es kommt darauf an, wie man damit umgeht. Wenn uns Leute nach dem Konzert fragen, ob sie mit uns ein Bier trinken können, ist für uns klar, dass wir das gerne tun. Viele Promoter erzählen von anderen Bands, die auf ihrem Rider dieses und jenes aufgeführt haben. Sie würden auf spezielle Backstage-Räumlichkeiten bestehen, Essen oder Getränke. Wir sind glücklich, wenn wir auftreten können und verlangen keine komischen Dinge. Es ist wichtig, auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben.
MF: Welches Album war für dich das schwierigste zu schreiben oder aufzunehmen?
Andy: Oh, grossartige Frage (überlegt). Ich denke, das müsste wahrscheinlich…, also, das war…, ja, das war «Unbroken» (aus dem Jahr 2018). Wir hatten bei keinem Album eine Art Schreibblockade, aber «Unbroken» war die erste Scheibe, bei der ich nicht in den Mix involviert war. Es gibt zwei Gründe dafür. Erstens: Niemand investiert mehr Zeit in eine Platte als diejenigen, die die Lieder komponiert und aufgenommen haben. Die Produzenten haben nicht das Gefühl und das Gespür für die Lieder. Zweitens: Zeit und Geld. Niemand mischt dir eine Platte für 2'000 Pfund und nimmt sich dabei genügend Zeit. Da sitzt dir niemand sechs Monate im Studio, hört sich die Aufnahmen an und meint mit einem Lächeln: "Hey Jungs, ich verliere jeden Tag Geld, aber das macht nichts, ist ja für euch." Ich denke, eine gute Produktion macht vieles aus und ist ein entscheidender Faktor in diesem Spiel.
MF: Kann es sein, dass du in der Vergangenheit verärgert über das Musikbusiness, Labels und Manager warst?
Andy: Oh mein Gott…, ja (lacht)! Da gab es definitiv eine Periode in meinem Leben, in der ich keine weitere Sekunde mehr mit dem Musikbusiness etwas zu tun haben wollte. In den Anfangstagen wurden wir abgezockt und um sehr viel Geld betrogen. Das hat mein Leben völlig verändert. Das Geld war weg, und mein heutiges Leben unterscheidet sich stark von damals (lacht). Heute bin ich nicht mehr verbittert. In meinen frühen Zwanzigern habe ich in der ganzen Welt getourt. Wir hatten eine fantastische Zeit und lernten wundervolle Leute kennen. Es waren grossartige Tourneen, die wir spielten, und es bleiben unglaubliche Erinnerungen zurück. Das ist auch das, was am Ende des Tages übrigbleiben sollte. Dies kann dir niemand nehmen. Das Business war und ist immer Scheisse. Damals bekamen wir das Geld nicht, und heute verdienst du kaum mehr etwas mit der Musik.
Als ich mit der Musik aufgewachsen bin und mir Led Zeppelin und Pink Floyd anhörte oder Van Halen und meine Lieblingsband Thin Lizzy, habe ich mein kaum vorhandenes Geld in Vinyl investiert. Ich ging in den Plattenladen in meiner Stadt und wusste, dass ich mir nur eine Scheibe kaufen konnte. Ich stand vor der Wahl: Soll ich nun dieses oder jenes Album kaufen? Nach der schweren Entscheidung fuhr ich mit dem Bus nach Hause. Auf der Fahrt habe ich die Platte aus der Kunststofffolie befreit und mir das Cover und die Bandfotos genau angeschaut. Es war ein Erlebnis, und zu Hause hast du dir die Scheibe bis zum Tod angehört. Bis die B-Seite auf der A-Seite zu hören war (lacht). Heute hast du Spotify, lässt dir ein paar Tracks vorschlagen. Die Leute hören sich ein paar Nummern an und werfen sie ein paar Tage später wieder aus ihrer Playlist raus.
Wenn man sich als Musiker Gedanken über seine Ideen macht und von den ersten Demos bis zum fertigen Produkt Stunde um Stunde arbeitet, sind diese neuen Plattformen wirklich eine Schande. Die ganze Industrie und dieses ganze soziale Medien-Zeug..., es ist traurig, was daraus geworden ist. Diese Magie, die ich früher erleben durfte, als ich eine neue Platte kaufte, hat heute ihren ganzen Reiz verloren. Damals wusstest du auch nicht, was Led Zeppelin den ganzen Tag machten (lacht). Es gab kein Facebook oder Snapchat. Es lag etwas Mysteriöses über diesen Bands. Heute gibt es das nicht mehr, weil jeder Musiker das Gefühl hat, jeden Schritt auf den sozialen Medien teilen zu müssen (lacht). Alles hat sich massiv verändert. Ich spiele nun schon fast seit einem halben Jahrhundert Gitarre und nehme seit den letzten 45 Jahren Musik auf. Das ist eine verdammt lange Zeit (grinst). Ich habe mehr Bands kommen und gehen sehen, als ich zählen kann (lacht). In wie vielen Bands spielen heute noch die Original-Mitglieder mit?
MF: Wir sind die alten Bastarde…
Andy: …oh ja, Martin…
MF: …die, die sich noch am Vinyl, den CDs, den Covern und den Booklets erfreuen, in die Musik eintauchen, sich von den Ideen der Bands mitreissen lassen und die Musik geniessen…
Andy: …ja, da hast du absolut recht. Wir sind in der glücklichen Lage, dass unsere Plattenfirma die letzten Alben auch auf Vinyl veröffentlicht hat, und zwar als Doppel-Vinyl. Wir haben sehr treue Fans, die sich die Vinyl-Platten in ihre Sammlung stellen wollen. Das Tragische ist, dass die Produktions-Kosten für Vinyl inzwischen sehr teuer geworden sind.
"...Mein Gott, wo kommen all diese Leute her?..."
MF: Ihr habt damals am Aardschokdag-Festival in Zwolle am 11. Februar 1984 zusammen mit Venom und Metallica gespielt. Welche Erinnerungen hast du an diesen Event, der dazu beigetragen hat, die Metal-Szene in Europa zu revolutionieren?
Andy: Oh, das ist eine lange Zeit her (lacht). Kürzlich habe ich ein Poster von diesem Festival gefunden. Es war für uns unvorstellbar, an einem solchen Event teilzunehmen, da es das erste grosse Festival für Tokyo Blade war. Wir hatten vorher nur in Clubs vor ein paar hundert Leuten gespielt. Metallica waren damals noch nicht so gross, wie sie es heute sind. Lars (Ulrich) und James (Hetfield) übernachteten seinerzeit im Haus unseres Bassisten Andy. Wir kannten die Jungs sehr gut und haben uns oft auf ein Bier mit ihnen getroffen. Ich erinnere mich, wie ich auf die Bühne ging und dachte: "Mein Gott, wo kommen all diese Leute her? (lacht). Wie sollen wir vor so vielen Leuten spielen?" Venom waren an diesem Tag die Headliner, davor spielten Metallica und wir. Es war für uns eine unglaubliche Show.
MF: Es war mir ein Vergnügen und eine Ehre, mit dir zu plaudern. Herzlichen Dank für die Zeit, die du dir genommen hast.
Andy: Martin, es war mir wie immer eine Freude und hat sehr viel Spass gemacht mit dir zu sprechen, mein Freund. Pass auf dich auf, und ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.
MF: Das hoffe ich auch. Passt auf euch auf, und hoffentlich bis bald in der Schweiz!
Andy: Ich danke dir von Herzen. Lass mich noch ein paar Worte an unsere Fans richten: "Ich danke Euch allen für Eure Unterstützung in all den Jahren. Wir würden sehr gerne wieder für Euch spielen und bedanken uns dafür, dass Ihr immer unsere neuen Alben gekauft habt. Wir hoffen, Euch bald wiedersehen zu können!"